Die Glasmodelle der Blaschkas: Kunst als Wissenschaft, Wissenschaft als Kunst

Ein feines kleines Buch über die staunenswerten Glasmodelle der Blaschkas, zusammen mit den famosen Fotografen Heidi und Hans-Jürgen Koch.

Leopold und Rudolf Blaschka, Vater und Sohn , waren zwei böhmische Glaskünstler, die ihr Handwerk in zuvor und seither unerreichte Höhen geführt haben – im Dienst der Wissenschaft. Vater Leopold war ausgebildeter Goldschmied und Glasbläser und stellte ursprünglich Glasaugen her. Ab den 1860er Jahren begann er auf Anregung eines Aquarienbesitzers Seeanemonen aus Glas herzustellen und verlegte sich bald völlig auf die Herstellung möglichst lebensechter Modelle von Meerestieren.

Mit enormem handwerklichen Geschick und einer Kombination sämtlicher existierender Techniken der Glasbearbeitung wie Schmelzen, Ziehen, Färben, Lackieren, Schleifen, Unterstützung mit Draht o.ä. bauten die Blaschkas immer mehr verschiedene Organismen: Korallen und Seesterne, Quallen und Röhrenwürmer, Nachtschnecken und Seeanemonen. Viele dieser Organismen hatte man noch nie in Ruhe anschauen können, denn von manchen filigranen Tieren wie Schwämmen oder gab es schlicht keine brauchbaren Aufnahmen; auch die gängigen Modelle aus Holz, Papier oder Gips waren immer nur ein müder Abklatsch der Wirklichkeit. Mit wissenschaftlicher Akribie und dem nicht nachlassenden Willen, ständig dazuzulernen, erarbeiteten sich die Blaschkas – als ursprüngliche Autodidakten – schließlich sogar den Ruf wissenschaftlicher Autoritäten.

Nachfolgend mein Einführungstext aus dem Buch:

 


Das Flüchtige und die Ewigkeit

Die Glasgeschöpfe von Leopold und Rudolf Blaschka

Martin Rasper

Unter den vielen merkwürdigen Organismen, die die Evolution im Lauf der Zeit hervorgebracht hat, gehören Quallen zu den bizarrsten. Seit Urzeiten wabern sie durch die Ozeane, ungemein stabil als Tiergruppe, aber flüchtig in ihrer individuellen Gestalt – komplizierte Gebilde aus Gallert in Form von Tellern, Pilzen, Glocken oder Würfeln, zusammengehalten von hauchdünnen Zellenlagen, die zum Teil nur ein Fünfzigstel Millimeter dick sind; ätherisch zart, aber zuweilen raffinierte Killer dank ihrer hochwirksamen Nesselgifte; Wesen ohne Knochen, ohne Herz, ohne Hirn, ohne Blut, rätselhafter als das Leben selbst.

Für den Zoologen ist die Qualle – oder Meduse, wie sie im 19. Jahrhundert meist genannt wurde – gar kein vollständiges Tier, sondern nur eines von mehreren Entwicklungsstadien des Tiers, ähnlich wie bei Insekten. So seltsam sind die Nesseltiere, die Cnidaria, zu denen die Quallen gehören, dass sie mit ihren Tausenden von Arten einen eigenen Stamm bilden. Am unfassbarsten ist aber vielleicht ihre Flüchtigkeit. Eben im Wasser noch ein schwebendes Wesen von abgründiger Poesie, verschwindet der Zauber augenblicklich, wenn sie aus ihrem Element herausgerissen werden. Es gibt kaum etwas trostloseres als das bleiche, schmutzige Etwas einer toten Qualle am Strand. Auf ein paar Gramm Material reduziert sich ein mehrere Kilogramm schwerer Körper, wenn man ihm sämtliche Flüssigkeit entzieht.

Wer dagegen weíß, mit welch schwärmerischer Begeisterung etwa der Zoologe Ernst Haeckel in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Meeresorganismen studierte, wie er eine ausnehmend prächtige Scheibenqualle nach seiner Frau Anna, geb. Sethe Desmonema annasethe nannte und sie in seiner „Villa Medusa“ als kunstvolles Deckenornament gestalten ließ, der bekommt eine Ahnung von der Faszination, die diese filigranen Organismen auslösen können. Zumal damals, als man die Vielfalt des Meereslebens gerade erst allmählich entdeckte – und als ein böhmischer Kunsthandwerker namens Leopold Blaschka die ersten Meerestiere nachzubilden begann. Aus einem Material, aus dem bislang noch niemand naturwissenschaftliche Modelle gefertigt hatte und das von den realen Körpern der Weichtiere weiter entfernt zu sein schien als jedes andere: Glas.

Denn Glas ist ein ganz besonderer Stoff. Kristallographisch gesehen, ist Glas eine erstarrte Flüssigkeit. Es ist in gewisser Hinsicht das Gegenteil eines Kristalls, denn bei dem raschen Abkühlen des Glases haben die Atome keine Zeit, sich zu ordnen und ein regelmäßiges Kristallgitter zu bilden. Deshalb hat Glas eine regellose Struktur, die sich am deutlichsten zeigt, wenn es bricht: Es entstehen niemals gerade Kanten, sondern immer unregelmäßig gebogene, „muschelige“ Bruchflächen. Doch die sind hart wie Stahl: Eher lässt sich mit einer Glasscherbe eine Messerklinge ritzen als umgekehrt.

Wer schon einmal Glasbläsern bei der Arbeit zugesehen hat, der weiß, wie formbar – aber auf sehr spezielle Weise – dieser Werkstoff ist. Beim Arbeiten mit Glas, mehr als bei den meisten anderen Materialien, spielen Rhythmus und Zeitgefühl eine besondere Rolle. Glas ist extrem formbar, wenn es geschmolzen ist; aber es kühlt sehr schnell ab und ist dann sofort hart und spröde. Dieses rasche Umkippen zwischen den Zuständen der absoluten Formbarkeit und der Nicht-Bearbeitbarkeit macht den Reiz und die Schwierigkeit beim Arbeiten mit Glas aus.

Und gerade diese mehrfache Zwitternatur des Glases, sein Oszillieren zwischen formbar und spröde, zwischen Zerbrechlichkeit und Härte, zwischen Klarheit und Regellosigkeit, korrespondiert aufs Wunderbarste mit der geheimnisvollen Vielfalt und Unergründlichkeit der Meerestiere. Diese merkwürdigen Geschöpfe, bei denen die Materie teilweise auf geradezu freakhafte Art und Weise organisiert ist, lassen sich nur aus Glas befriedigend darstellen. Ob gallertig wabernde Körper oder meterlange hauchdünne Nesselfäden, ob tastende Tentakel oder allerspitzigste Kalknädelchen, ob glockenförmig gespannter Medusenschirm oder muskulöser Schneckenfuß – sie alle finden ihren gültigen Ausdruck in diesem Material, in der Vielfalt dieser getupften und gezupften, getauchten und gehauchten, gezogenen und gebogenen Formen. Ganz zu schweigen von den optischen Eigenschaften ihrer Körper, dem Leuchten, dem Irisieren, dem matten Schimmern. Glas ist also das perfekte Material, um solche Körper zu bauen. Es musste nur einer drauf kommen.

Wie haben die das gemacht? Es wird gelegentlich behauptet, Fachleute könnten sich bei vielen der Modelle überhaupt nicht erklären, wie die Blaschkas das damals hinbekommen haben. Das mag für einzelne Details zutreffen; insgesamt stimmt es so nicht. Was aber das Werk von Leopold und Rudolf Blaschka tatsächlich für alle Zeiten einzigartig macht, sind seine Perfektion, seine Fülle und seine  Wirkung – und die wiederum entstehen aus dem Zusammenspiel mehrerer Faktoren: enormer handwerklicher Kunstfertigkeit mit perfektionistischem Anspruch; unbändigem Gestaltungswille; und der Bereitschaft, permanent dazuzulernen.

Was zunächst die handwerklichen Fähigkeiten angeht, so waren sie Leopold Blaschka in die Wiege gelegt worden, und zwar sattsam. Er konnte und wusste alles, was es mit und über Glas zu können und zu wissen gab; und über ein paar weitere Werkstoffe beinahe alles. Sein Großvater hatte einen Glasofen und eine Sägemühle besessen; sein Vater war Glasbläser, Edelsteinschleifer und Mechaniker; und er brachte seinem Sohn nicht nur all diese Kunstfertigkeiten bei, sondern förderte auch sein künstlerisches Talent und sein Interesse für die Naturwissenschaften. Der junge Leopold Blaschka also, geboren 1822 in Aicha in Nordböhmen, heute Český Dub, war eine vielseitig geförderte Begabung, wie es sie im aufgeklärten Bürgertum einer alten Handwerks- und Kulturregion nicht selten gibt. Und er sollte nicht der letzte der Dynastie bleiben: Er gab sein Wissen, vermehrt um die dazugewonnene Lebenserfahrung, an seinen Sohn Rudolf weiter, der 1857 geboren wurde und 13-jährig in seiner Werkstatt als Lehrling anfing.

Das handwerkliche Können allein hätte aber nicht ausgereicht, um die Modelle in dieser Vielfalt zu schaffen. Der Gestaltungswille der Blaschkas war enorm, und sie zogen alle nur denkbaren Register, um die gewünschten Formen hinzubekommen – und dabei beschränkten sie sich nicht auf die traditionelle Glasmacherkunst, sondern nutzen auch unorthodoxe Techniken. Sie schliffen und färbten, lackierten und emaillierten, bohrten und perforierten das Glas; sie klebten Teile an und montierten die Modelle auf verschiedene Weise, sie stützten fragile Bereiche mit Draht oder Schnüren und versahen Hohlräume mit farbigem Papier, um innere Strukturen darzustellen. Und sie erweiterten ständig ihr Sortiment. War die Herstellung der Meerestiere anfangs noch eines von mehreren Geschäftsfeldern neben Glasaugen, Laborgeräten und Schmuck, so konzentrierte man sich mit zunehmendem Erfolg immer mehr darauf. 1871 umfasste der Katalog 271 Modelle und bewarb diese sowohl als Wissenschaftszubehör als auch als Zimmerschmuck; 1878 war das Sortiment bereits auf 600 Modelle angewachsen, und jetzt war nur noch von Wissenschaft die Rede.

Bleibt als drittes Element die Lernfähigkeit. Die Entschlossenheit von Vater Leopold und – mehr noch – von Rudolf Blaschka, sich auf eigene Initiative biologisches, zoologisches und meereskundliches Fachwissen anzueignen, war stupend. Waren sie ursprünglich zur Herstellung der gläsernen Lebewesen noch völlig auf wissenschaftliche Veröffentlichungen und Mitteilungen von Experten angewiesen, so gewannen sie zunehmend eigenes Wissen. Sie korrepondierten mit den Professoren, die ihre Modelle bestellten, über anatomische und entwicklungsphysiologische Details und nutzten jede Gelegenheit, Forschungsfortschritte zu erfahren. Sie begannen Meeresorganismen im Original zu studieren, auf Exkursionen, anhand von Alkoholpräparaten und indem sie zu Hause Aquarien anlegten, in denen sie die Tiere selbst hielten. Sie studierten die Fachliteratur; besonders Rudolf verbrachte viel Zeit in Bibliotheken und wurde 1880 als korrespondierendes Mitglied in die naturwissenschaftlichen Gesellschaft ISIS in Dresden aufgenommen, kein schlechtes Zeugnis für einen Autodidakten. Um 1886 war ihr fachlicher Ruf so gefestigt, dass ihre Modelle von den Museen und Sammlungen, die sie ankauften, ohne weiteres als Stand der Wissenschaft anerkannt wurden. Die Amateure waren zu Autoritäten geworden.

Es gibt aber noch einen vierten Faktor, der die Einzigartigkeit des Blaschka’schen Werks ausmacht: die Verortung in der Geschichte. Heute wäre eine solche Arbeit, jedenfalls in dieser Kombination aus Handwerk und Wissenschaft, gar nicht mehr möglich. Eine derartige Konzentration auf ein Thema und eine Arbeitsweise funktioniert kaum noch bei einem Wissenschaftler, eher bei einem Künstler, aber nicht bei Menschen, die sich irgendwo dazwischen bewegen. Es wäre schlicht nicht zu bezahlen, und die Konkurrenz der anderen Medien und Materialien würde so etwas auch gar nicht erst aufkommen lassen. Vor allem aber war es ein ganz bestimmter naturhistorischer Augenblick, in dem Leopold und Rudolf Blaschkas Glasgeschöpfe in die Welt traten und berühmt wurden: Es war der Moment, in dem die Naturwissenschaft die Bedeutung der Meere für das Leben auf der Erde zu begreifen begann.

Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts waren die Tiefen der Ozeane eine unentdeckte Welt, ebenso fern wie die Weiten des Alls. Man wusste nicht das Geringste über sie; nach vorherrschender Meinung existierte dort noch nicht einmal Leben. Das begann sich dann rasch und dramatisch zu ändern. Vor allem die Expedition der HMS Challenger von 1872-1876 ließ das Wissen über die Meere explodieren – und begann zugleich die Ahnung zu verbreiten, dass man trotzdem erst ganz zaghaft an der Oberfläche des Wissens zu kratzen begonnen hatte.

So war denn die Begeisterung des zeitgenössischen Publikums eine doppelte: Man bewunderte die handwerkliche Perfektion und die schiere Schönheit der gläsernen Wesen; und man staunte darüber, was sich in der fernen Tiefsee so alles tummelte.

Die Faszination für die Schönheit der Natur, das Staunen über ihre schier unfassbare Komplexität gehören seit jeher zum Erkenntnisprozess der Naturforscher. Der französische Mathematiker und Physiker Henri Poincaré hat dieses Verhältnis einmal so beschrieben: „Der Gelehrte studiert die Natur nicht, weil das etwas nützliches ist; sondern er studiert sie, weil er daran Freude hat; und er hat Freude daran, weil sie so schön ist.“ Leopold und Rudolf Blaschka hätten Poincaré aus vollem Herzen zugestimmt. Trotzdem war die Schönheit für sie kein Selbstzweck. Und vielleicht wirken ihre Geschöpfe deshalb so echt, weil es ihnen eben nicht primär um Schönheit ging, sondern um Wahrheit.

Dass die Beschäftigung mit der Natur ästhetisch beglückende Ergebnisse hervorbringen kann, war schon damals nichts neues. Viele der Maler, die vom 17. bis zum 19. Jahrhundert den wissenschaftlichen Ertrag der großen Expeditionen sichern halfen, waren absolute Könner – allen voran der Österreicher Ferdinand Bauer, dessen botanische Zeichnungen heute noch durch ihre Präzision und ästhetische Wirkung verblüffen. Auch die Insektenbilder der Maria Sibylla Merian hatten ein Jahrhundert zuvor durch ihren wissenschaftlichen Gehalt und ihre Kunstfertigkeit Maßstäbe gesetzt. Und selbst Ernst Haeckel, bewundertes Vorbild der Blaschkas, verewigte sich mit seinen „Kunstformen der Natur“ als Wissenschafts-Künstler.

Leopold und Rudolf Blaschka jedoch ragen durch die Art und Weise, wie sie die Naturphänomene in sinnliche Darstellung umgesetzt haben, aus dieser illustren Gesellschaft noch heraus – schillernd, rätselhaft, einzigartig. So, als wären sie selbst bizarre Organismen, deren Fremdheit sich gar nicht ganz ausloten lässt.